Typenkunde – Liegerad
Liegeräder: Mission komfortabel
Eine echte Alternative zu klassischen Fahrrad-Sitzpositionen bieten Liegeräder. Und das nicht erst seit gestern – erste Liegeräder gab es schon bald nach den ersten Fahrrädern. Bereits bei den frühen Entwicklungen verfolgten die Konstruktionen vor allem den Ansatz, dem Fahrtwind ein aerodynamisches Schnippchen zu schlagen. In jener Epoche hatten Liegeräder bei Geschwindigkeitsrekorden die Nase vorn, bis sie 1934 vom offiziellen Sportbetrieb ausgeschlossen wurden. Das war dann auch weitgehend das Aus für diese Gattung, die in den nächsten Jahrzehnten nur noch wenige Freunde fand.
Wiederentdeckt wurden die Liegeräder dann im Laufe der 1970-Jahre, als man sich auf der Suche nach Mobilitätsalternativen zum Auto und den damals vergleichsweise primitiven Standardfahrrädern befand. Parallel zu den Versuchen, Liegeräder als Alltagsfahrzeuge salonfähig zu machen, versammelten sich in der HPV-Szene (Human Powered Vehicles) sportlich orientierte Entwickler:innen, die das aerodynamische Potenzial der Gattung immer weiter ausloten. Zahlreiche Geschwindigkeitsrekorde wurden mit vollverkleideten Liegerädern (siehe auch „Velomobile“) erreicht; 2016 stellte der Kanadier Todd Reichert den noch immer gültigen Höchstgeschwindigkeits-Weltrekord für muskelbetriebene Fahrzeuge ohne Windschatten von 144,17 km/h auf.
Als Hauptargumente für Liegeräder im Alltags- und Reiseeinsatz dürfen der Panoramablick und die komfortable Körperhaltung genannt werden. Letztere gibt den Fahrer:innen neben dem aerodynamischen Vorteil auch einen energetischen Mehrwert aufgrund einer geringeren Belastung der gesamten Körpermuskulatur. Die Kombination aus Geschwindigkeit und Komfort macht den Reiz des Radelns im Liegen aus. Die geringe Fallhöhe ist außerdem ein Sicherheits-Plus gegenüber dem klassischen Velo – zumindest bei zweirädrigen Versionen, denn dreirädrige Liegeräder (Trikes) sind sehr kippstabil. Zu den Schwierigkeiten der Gattung gehören die zunächst ungewohnte Fahrdynamik, das teils deutlich flachere Sichtfeld, die niedrige Position im Straßenverkehr und die Notwendigkeit von Rückspiegeln, da die liegende Position einen Schulterblick praktisch verunmöglicht.
Liegeräder gibt es in zahlreichen Varianten, deren Fahrverhalten sich mitunter erheblich voneinander unterscheidet und ihrem Nutzer unterschiedlich viel Gewöhnung abverlangt.
1. Kurzlieger
Diese Bauform ist die wohl am weitesten verbreitete unter den Liegerädern. Das Tretlager sitzt vor dem Vorderrad, welches oft kleiner ist als das Hinterrad. Der Lenker befindet sich entweder an einem langen Vorbaumast oberhalb der Beine oder unterhalb des Sitzes, sodass man die Hände bequem seitlich in Körperhöhe an die Griffe legen kann. Moderne Kurzlieger sind mit zeitgemäßer Technik ausgestattet, wie hydraulischen Scheibenbremsen, Getriebeschaltungen, E‑Bike-Antrieb (siehe unten) und einem vollgefederten Fahrwerk. Jenes ist bei Liegerädern besonders sinnvoll, da Stöße kaum durch Ausgleichsbewegungen abgefangen werden können.
2. Liegedreirad
Dreiräder kommen mal mit zwei Hinterrädern (Bauweise „Delta“), mal mit zwei Vorderrädern (Bauweise „Tadpole“). Besonders letztere vermitteln ein Go-Kart-ähnliches Fahrgefühl. Die Fahrzeuge bieten eine sehr stabile Straßenlage und ermöglichen bei aktiver Fahrweise hohe Kurvengeschwindigkeiten. Auch bei niedrigen Geschwindigkeiten und mit hoher Zuladung sind Dreiräder besonders spurtreu, was sie zu beliebten Reiserädern macht. So genießt man die Landschaft entspannt in der Panoramaperspektive.
3. Sesselrad
Das Sesselrad (auch „Scooterbike“ genannt) vereint die Eigenschaften von Liege- und Aufrecht-Rad und verlangt vor allem wenig Umgewöhnung beim Fahren. Beim Sesselrad thront man auf einer breiten Sitzfläche mit komfortabler Lehne und in mittlerer Sitzhöhe, was der Übersicht und Sichtbarkeit im Verkehr zugute kommt. Getreten wird nach vorne bzw. leicht nach unten, wobei die Lehne eine gute Abstützung für kraftvollen „Schiebetritt“ ermöglicht. Der Lenker ist etwa auf Brusthöhe positioniert. Kleine Laufräder machen das Sesselrad wendig und Sesseldreiräder bieten auch gleichgewichtsbeeinträchtigten Menschen den Komfort der Radgattung.
4. Langlieger
Beim Langlieger befindet sich das Vorderrad ein gutes Stück vor dem Tretlager. Der Radstand ist extrem lang, die Fahreigenschaften dadurch entsprechend gutmütig. Die geringe Last auf dem Vorderrad kann jedoch zu Traktionsproblemen führen. Langlieger gehörten in den frühen 1980er-Jahren zu den Pionieren der wieder auflebenden Gattung, sind heute aber nur noch selten anzutreffen.
5. Tieflieger
Bei diesem Konzept sitzen die Fahrer:innen nur rund 20 Zentimeter über dem Boden und zwischen den Laufrädern. Der Radstand ist kurz, das Tretlager liegt vor und über dem Vorderrad. Wer Übung hat, kann mit der aerodynamischen, schwerpunktgünstigen Konstruktion hohe Geschwindigkeiten erreichen.
6. Velomobil
Hierunter fallen unterschiedliche Fahrzeuge, die per Muskelkraft angetrieben werden. Gemeint werden jedoch in erster Linie meist vollverkleidete, dreirädrige Modelle, die für den Alltagseinsatz konzipiert sind und sowohl Wetterschutz als auch reichlich Transportmöglichkeiten für Gepäck bieten. Zweirädrige Velomobile werden hauptsächlich Sport verwendet, da ihr Einsatz im Alltag etwas schweiriger ist – Stichwörter Anhalten und Fußabsetzen.
7. Elektrisierte Liegeräder
Als E‑Bikes eignen sich Liegeräder besonders gut, denn erstens ändert sich aufgrund ihres meist höheren Gewichts und tiefen Schwerpunkts die Fahrdynamik durch das Mehrgewicht von Motor und Akku kaum. Zweitens leistet die Elektrounterstützung bergauf nützliche Dienste, wenn Liegeradler:innen nicht ihr Eigengewicht im Wiegetritt nutzen können. Drittens hilft ihre Aeronynamik, Strom zu sparen. Doppel-Akku-Systeme vergrößern einerseits die Reichweite der Räder – andererseits verbessern sie hier sogar das Handling von Trikes, denn das Mehrgewicht wird symmetrisch verteilt. Die beim Aufrechtrad mittlerweile marktführenden Mittelmotoren lassen sich auch am Liege(drei)rad verbauen, wobei sie hier aber aufgrund der Tretlagerposition nicht wirklich „Mittel“-Motoren sind, sondern sich mit der Kurbel ganz vorne am Rad befinden.
Liegeräder und Trikes sind auch als S‑Pedelecs erhältlich – was sie als besonders komfortable Langstrecken-Pendelmaschinen prädestiniert.
H. David Koßmann | pressedienst-fahrrad
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