Wir müssen unsere Mobilität ändern, damit Kinder wieder Radfahren können
Durch die Vorerfahrungen des Laufradfahrens erleben Kinder mittlerweile schon ab dem circa zweiten Lebensjahr, was es heißt, selbstständig mobil zu sein. So erwerben sie die nötigen Voraussetzungen für einen frühen und schnellen Umstieg auf das Fahrrad – viele bereits mit ungefähr drei Jahren. Der Anteil der Kinder, die mit dem Rad zum Kindergarten fahren, ist folgerichtig in den letzten Jahren gestiegen. Einen weiteren Grund nennt Anne Schmidt vom Anhängerspezialisten Croozer: „Immer mehr Eltern nutzen das Fahrrad oder E‑Bike, um ihren Nachwuchs z. B. mit einem Anhänger in den Kindergarten zu fahren. Die Kinder werden so früh an das Radfahren herangeführt. Deshalb ist auch wenig verwunderlich, wenn sie selbstständig früher kleine Strecken absolvieren können.“ Trotz solch guter Voraussetzungen geht der Anteil der radfahrenden Kinder ab dem Grundschulalter wieder zurück, wie die KiGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts zeigt. „Dabei prägt das Grundschulalter, wie Kinder im weiteren Lebensverlauf mobil sind. Kinder und Jugendliche, die sich häufig bewegen, machen das auch im Erwachsenenalter“, weiß Marc Thiel, Geschäftsführer beim Kinderfahrzeugspezialisten Puky.
KiGGS-Studie
Die Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) ist eine vom Robert-Koch-Institut seit 2003 durchgeführte Erhebung zum Gesundheitszustand von Kindern im Alter zwischen null und 17 Jahren. Die Erhebung beschäftigt sich neben allgemeinen Gesundheitsfragen auch mit dem Mobilitätsverhalten von Kindern und seinen gesundheitlichen Auswirkungen.
Kinder bewegen sich zu wenig
Radfahren im Alltag ist eine, wenn nicht sogar die beste Möglichkeit, um einfach und schnell den Bewegungsmangel der Kinder zu beseitigen. „Das alltägliche Radfahren hat bereits einen positiven Effekt auf die Gesundheit“, sagte der Mediziner und Politiker Johannes Wagner bei einer Online-Veranstaltung von Bündnis90/Die Grünen. Zusätzlich könnten sich radfahrende Kinder besser orientieren, bauten leichter soziale Bindungen auf und könnten unvorhersehbare Situationen selbstständig lösen. „Alles zentrale Bausteine der kindlichen Entwicklung“, bekräftigte Wagner.
Trotz dieses Wissens sieht die Realität anders aus. Das unorganisierte, freie Spielen von Kindern an der frischen Luft hat in den letzten Jahren um 25 Prozent nachgelassen. Kinder in Deutschland erfüllen die Bewegungsempfehlung der Weltgesundheitsorganisation von 60 Minuten am Tag bei weitem nicht. Nur 22,4 Prozent der Mädchen und 29,4 Prozent der Jungen im Alter von drei bis 17 Jahren treiben mindestens eine Stunde am Tag Sport, heißt es in der KiGGS-Studie. Expert:innen nennen als Grund die sogenannte Verinselung: Kinder bewegen sich nicht mehr frei, sondern werden im Alltag von einer Insel, z. B. Schule, Sportunterricht, Freund:innen, zur anderen gefahren – meist im Auto und unter Aufsicht der Eltern. Die Folge: Die alltägliche, selbstständige Bewegung fällt weg.
„Kindern wird gar nicht zugetraut, sich eigenständig von einer Insel zur anderen zu bewegen. Das ist schade, denn dadurch verlieren sie Verkehrskompetenz und wichtige Grundlagen, die sie später brauchen“, sagt Thiel. Der auf Verkehrsrecht spezialisierte Anwalt Olaf Dilling sieht noch ein weiteres Problem: Bereits in der Verkehrserziehung wird Kindern gelehrt, dass das Auto Vorrang im Straßenverkehr genießt und sie „das Auto nicht stören“ sollen. Das sei aber falsch. Man brauche einen kindgerechten Verkehr und nicht verkehrsgerechte Kinder.
Verhäuslichung
Neben der Verinselung wird auch von der wachsenden Verhäuslichung gesprochen. Gemeint ist damit, dass Kinder den Großteil ihrer Zeit zu Hause verbringen. Dazu zählt auch die sogenannte „mobile Verhäuslichung“ im elterlichen Pkw, da Kinder hier weiterhin in einem gewohnten Raum unter Aufsicht der Eltern sind.
Hohes Verkehrsaufkommen ist ein Risiko
Aber warum lassen Eltern ihre Kinder nicht selbstständig unterwegs sein? Das hängt in erster Linie vom Verkehrsaufkommen des Wohnumfeldes ab. „Die starke Zunahme des Autoverkehrs und das damit einhergehende Unfallrisiko hat die Möglichkeiten von Kindern, sich in ihrem Umfeld selbstständig zu bewegen, stark eingeschränkt. Selbstständige Kinderwege werden immer häufiger durch begleitete Wege im ‚Eltern-Taxi‘ ersetzt“, schreibt der Verkehrsclub Deutschland (VCD) in seinem Infoblatt „Kindgerechte Mobilität“. Laut einer Studie der Unfallkasse Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2010 spielen in Wohngebieten mit hohem Verkehrsaufkommen nur 18 Prozent der Kinder auf der Straße. Als wichtigste Maßnahmen dagegen nennt der VCD u. a. sichere und komfortable Fuß- und Radwegenetze, verstärkte Kontrollen und höhere Bußgelder (z. B. für Falschparken und Geschwindigkeitsübertritte) sowie geringere Höchstgeschwindigkeiten.
Planungen für bessere Infrastruktur vorantreiben
Weitere gute Ideen sind das Einrichten von Schulstraßen mit Fahrverbotszonen vor dem Eingang der Schule, das Einrichten von Fahrradstraßen oder die Ausweitung von Tempo-30-Zonen, wie sie die neue Straßenverkehrsordnung erleichtert. Jedoch: Alltagswege sind bei Kindern äußerst individuell. Außerdem sind die Wege ständig im Wandel, etwa durch den Wechsel an weiterführende Schulen. Einzelne Maßnahmen können somit nur punktuelle Verbesserungen bringen und stellen keine langfristige Strategie dar. Es braucht jedoch ein komplett durchdachtes Verkehrssystem – mit dem Fokus auf die Sicherheit der Kinder. Pauschallösungen sind nicht das Mittel der Wahl, sondern individuelle Anpassungen an das jeweilige Wohnviertel durch bessere Verkehrsführung. Das braucht jedoch bereits bei der Planung die nötigen Maßnahmen und politische Unterstützung. Beides fehlt vielerorts.