Nutzen Frauen das Fahrrad anders?
Als sich Julia Wiegand 2022 per Fahrrad allein auf den Weg von Köln nach Nordnorwegen machte, gab es einige Stimmen in ihrem Umfeld, die Bedenken äußerten. „Meist waren es Männer“, lacht die Radreisende und ergänzt: „So eine Reise wird Frauen nicht zugetraut. Aber das spiegelt mehr die Ängste der anderen Personen wider. Wenn Frau das machen will, kann sie das. Wir müssen mehr Frauen ermutigen, selbstständig etwas zu tun.“ Gerade im Bereich Radreise, Freizeit und Sport nutzen deutlich weniger Frauen als Männer das Fahrrad.
Das belegen auch Daten des Fahrradversicherers Linexo, ein Unternehmen der Wertgarantie Group. „Sport und Freizeit ist die Lücke, warum es Unregelmäßigkeiten bei der Fahrradnutzung zwischen Männern und Frauen gibt“, sagt Linexo-PR-Managerin Julia-Maria Blesin. So würden 34,3 Prozent der Männer regelmäßig mit dem Fahrrad (nicht E‑Bike) Sport treiben, während es nur 26,3 Prozent bei den Frauen seien. Aus Gesundheitssicht wäre es deshalb wichtig, das Radfahren von Frauen weiter zu fördern und mehr Frauen aufs Rad zu bringen, so der Wunsch von Blesin.
Haben Mädchen weniger Interesse?
Spätestens mit Einsetzen der Pubertät sei bei Mädchen ein Desinteresse an Radsport und Radfahren zu beobachten, sieht Wiegand, die als Radverkehrsexpertin im Referat Nahmobilität im Hessischen Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr, Wohnen und ländlichen Raum tätig ist. „Die aktive Mobilität darf auf dem Weg zum Erwachsenwerden nicht verlernt werden. Das ist eine wichtige Stellschraube“, betont sie. Eine Möglichkeit, mehr Mädchen zum Radfahren zu motivieren, könnten schulische Initiativen wie Mountainbike-Klassen bieten. Doch in der Praxis werden diese Angebote meist nur von Jungen besucht. Mädchen verlieren hingegen mit zunehmendem Alter das Interesse – mit schwerwiegenden Folgen für das Mobilitätsverhalten.
Ursachen sieht Leonie Sperling, Designerin und Produktentwicklerin beim Hamburger Fahrradhersteller Stevens, schon weitaus früher, in der kindlichen Mobilität: „Schon in einem frühen Alter wird Mädchen einfacher weniger zugetraut – auch beim Fahrradfahren.“ Die unterschiedliche Behandlung der Geschlechter werde bereits bei Kinderrädern sichtbar. Während für Jungen das sportive Mountainbike im Vordergrund steht, sollen Mädchen auf Hollandrädern mit aufrechter Sitzposition fahren. Ein sportives Radfahren, gerne auch gemeinsam, sei so nicht möglich. Es müsse den Mädchen deshalb bereits früh vermittelt werden, dass auch sie sportiv Radfahren können, sodass die Lust am Radfahren geweckt wird.
Hersteller verzichtet auf Geschlechtszuweisung
Beim Hersteller Stevens hat man sich deshalb entschieden, ab der Saison 2025 auf die Geschlechtszuweisung bei den Rahmenformen der Fahrräder und E‑Bikes zu verzichten. „Wir wollen nicht vorschreiben, welche Räder für welches Geschlecht sind, sondern die persönliche Präferenz berücksichtigen“, begründet Sperling den Schritt. Die Rahmen heißen je nach Position des Oberrohrs entweder „Low-Tube“ (für den Trapezrahmen), „High-Tube“ (für den Diamantrahmen) und „Forma“ (für den Tiefeinsteiger). „Das ist einfach aus der Nutzungs- und Verkaufsrealität entstanden. Es sind nicht nur Frauen, die einen tiefen Einstieg wollen. Im Sportbereich wie Rennrad und Gravelbike nutzen Frauen hingegen einen ‚Männerrahmen‘“, so Sperling. Man setze deshalb bei vielen Rädern auch auf eine Unisex-Ausstattung bei den Komponenten.
Ergonomische Unterschiede beachten
Der Sportmediziner Dr. Kim Tofaute findet diesen Ansatz positiv, weist aber auch darauf hin, dass es speziell beim Sattel geschlechterspezifische Unterschiede gebe, die man beachten sollte. Frauen seien im Schnitt kleiner und leichter als Männer, was bei der Sattelentwicklung eine zentrale Rolle spiele. Hinzu kämen Unterschiede bei Beckenform und Geschlechtsmerkmalen. „Das kann man nicht ignorieren. Mit einem geschlechtsspezifischen Produkt wird eine höhere Trefferwahrscheinlichkeit erreicht, dass das Produkt auch passt“, sagt Tofaute, der in der Produktentwicklung beim Ergonomiespezialisten Ergon arbeitet. Ausstatter Vaude berücksichtigt das Thema sogar bei der Herstellung von Fahrradhosen. Die Sitzpolster sind bei Frauen- und Männermodellen unterschiedliche gestaltet, was die sensiblen Bereiche besser schützen soll. „Ergonomie bedeutet, dass das Produkt für den Einsatzzweck optimal gestaltet ist“, erklärt Tofaute. So mache es Sinn, durch spezielle Komponenten und Zubehör die Kontaktpunkte geschlechterspezifisch und individuell zu verbessern, um mehr Komfort bieten zu können. Komfort sei bei der Radauswahl für Frauen nämlich ein weitaus wichtigeres Thema als für Männer, bekräftigt Blesin.
Männer fahren mehr E-Bike
Eine weitere Erkenntnis, die aus den Daten von Linexo hervorgeht: Frauen nutzen seltener ein E‑Bike. Während bei Männern rund 56 Prozent ein E‑Bike besitzen, liegt der Wert bei Frauen bei 43 Prozent. Ein aktueller Trend könnte aber mehr Frauen aufs E‑Bike bringen: Light-E-Bikes. Frauen achten bei der E‑Bike-Auswahl weniger auf die Reichweite, dafür mehr auf das Gewicht der Räder. „Frauen sind von der Kraft im Beinbereich ähnlich wie Männer, ihre Arm- und Schulterkraft ist hingegen geringer. Leichte E‑Bikes müssten deshalb eigentlich bei Frauen begehrt sein“, erklärt Tofaute. Allerdings ist in der Realität die Zielgruppe der Light-E-Bikes deutlich älter und männlicher, wie Sperling bestätigt. Als Grund vermutet sie, dass die Räder nicht im Alltag, sondern vermehrt in der Freizeit genutzt werden, wo, wie erwähnt, Männer öfter aufs Rad steigen. „Wir als Fahrradhersteller können nur ein Angebot an Produkten machen. Die Gründe für die schlechtere Fahrradnutzung von Frauen haben aus meiner Sicht auch viel mit der Infrastruktur zu tun“, sagt Sperling und bringt damit einen weiteren wichtigen Punkt ein.
Infrastruktur ist für Männer gemacht
Auch Julia Wiegand weiß von Frauen, die gerne mehr Fahrrad fahren würden, es aber als zu gefährlich einstufen. „Frauen sind besorgter; subjektive Sicherheit spielt eine stärkere Rolle. Die Fragestellungen lauten: Sind die Strukturen für Acht- bis 80-Jährige geeignet? Würde ich meine Kinder dort fahren lassen? Das muss man extrem oft verneinen“, sagt sie. Der Begriff Frau müsse deshalb weiter gefasst werden und auch ältere Menschen, Kinder und Menschen, die erst spät das Radfahren erlernt haben, beinhalten. Für diese Personen brauche es eine intuitive, flächendeckende Radverkehrsführung, getrennt vom Kfz-Verkehr – insbesondere auf kurzen Alltagswegen zu Kita und Schule, zu Freizeitaktivitäten und zum Einkaufen. „Diese Wege müssen leicht und gerne mit dem Fahrrad zu schaffen sein. Und man muss in der Lage sein, mit Taschen und Einkäufen zu fahren“, erklärt Wiegand.
Routine schafft Sicherheit
Wie wichtig breite Radwege im Alltag sind, unterstreicht Juliane Schumacher. Die Buchautorin und Bloggerin ist mit ihrem Nachwuchs in Berlin mit dem Lastenrad unterwegs. Sie ist der Meinung: „Je breiter der Weg, desto besser.“ Einerseits, um sich selbst sicher zu fühlen, andererseits aber auch, um besser von schnelleren Radfahrenden überholt werden zu können. Sie fahre mittlerweile mit dem Lastenrad öfter wieder auf der Fahrbahn anstatt auf zu schmalen Radwegen, da sie so einen besseren Überblick über den Verkehr habe und sich sicherer fühle. Um möglichst sicher und schnell unterwegs sein zu können, baut sie deshalb auch eigene Routen zusammen.
„Wenn man seine Stadt gut kennt, kann man auch die Wege besser planen“, sagt sie. Regelmäßiges Radfahren, um auch einen festen Wegeschatz aufzubauen, sei deshalb enorm wichtig. Dieser fehle aber vielen Frauen am Anfang, was zu Unsicherheiten führe und dazu, dass das Rad lieber stehengelassen wird. Schumacher spricht sich deshalb auch für zusammenhängende Wegenetze für alle Radfahrenden aus. „Radfahren ist nicht nur ein Sport, sondern auch ein Fortbewegungsmittel, das unabhängig vom Geschlecht funktioniert“, fasst sie zusammen.
Daten & Fakten
Für Ihre Recherche haben wir Daten über die Unterschiede bei der Fahrradnutzung von Frau und Mann zusammengestellt. Die Daten stammen von Linexo, IoT Venture und Ergon.