Das Fahrrad als Reha-Hilfe
Erkrankungen des Nervensystems haben laut einer Studie vom März 2024 Herz- und Kreislauferkrankungen an der Spitze der weltweit verbreitetsten Gesundheitsprobleme abgelöst. Mehr als 3,4 Milliarden Menschen und damit 43 Prozent der Weltbevölkerung sollen aktuell an Erkrankungen des Nervensystems leiden – durch Long Covid könnten die Zahlen in den nächsten Jahren noch weiter ansteigen. Diese gesundheitliche Entwicklung hat auch Auswirkungen auf den Fahrradmarkt. „Wir merken eine deutlich erhöhte Nachfrage, weil es immer mehr Menschen mit neurologischen Erkrankungen gibt, die ein Normalfahrrad nicht mehr fahren können“, sagt Thomas Bernds, Inhaber des baden-württembergischen Fahrradherstellers Bernds, der ein breites Sortiment an Spezialrädern wie Tandems, Dreirad und Faltrad anbietet.
Studie
Die genannte Studie wurde im Frühjahr 2024 vom US-Institut für Gesundheitsmesswerte und Evaluierung veröffentlicht. Die Forscher:innen gaben an, dass sich die Zahl der neurologisch Erkrankten in den letzten drei Jahrzehnten um 59 Prozent gesteigert hat.
Für Bernds ist das Thema auch aus einem persönlichen Grund aktuell: Beim langjährigen Mitarbeiter und Bruder von Co-Geschäftsführerin Michaela Buchholz, Christoph Buchholz, wurde 2019 Multiple Sklerose diagnostiziert. Die Krankheit verlief schnell und Christoph Buchholz konnte nicht mehr selbstständig Rad fahren. Mit Thomas Bernds versuchte er mit einem Tandem erste Fahrten durchzuführen. Durch das gemeinsame Fahren wurden Ängste vor Stürzen abgebaut. Mit der Zeit bekam Christoph Buchholz mehr Sicherheit und konnte längere Strecken absolvieren. Um nun wieder eigenständig unterwegs zu sein, entschied er sich für den Umstieg auf ein kippstabiles Dreirad. „Ich kann wieder Sachen machen, die einfach schön sind, Spaß machen und Lebensqualität zurückbringen“, sagt er heute. Anders als beispielsweise auf elektrifizierten Rollstühlen bewegt er sich auf dem Fahrrad, was wiederum seine körperliche Gesamtsituation verbessert. Er kann längere Strecken mit dem Rad absolvieren, wodurch er seine Kondition und sein Gehen ebenfalls trainiert – und vor allem: Er ist im Alltag selbstständig unterwegs.
Es braucht weitere Forschungen
Für Dr. Kim Alexander Tofaute ist das alltägliche Radfahren ein wichtiger Schritt für Betroffene, um wieder mehr Motivation zu finden: „Es geht darum, wieder fitter zu werden, um selbstbestimmt leben zu können.“ Der Sportmediziner ist einer der bekanntesten Fahrrad-Ergonomie-Experten in Deutschland und arbeitet mit dem Koblenzer Hersteller Ergon bei der Entwicklung von Sätteln und Griffen zusammen. Für Menschen mit neurologischen Erkrankungen gilt, wie für andere Radfahrende auch, schnelles Ermüden zu vermeiden, damit die Lust bestehen bleibt und längeres, komfortables Radfahren ermöglicht wird. Ein auf den Fahrenden abgestimmter Sattel oder Griffe, die eine Entlastung von Gesäß bzw. Händen bewirken, sind bereits ein Anfang. Bei komplexen Krankheiten ist es jedoch schwierig, die Problempunkte genau herauszuarbeiten. „Neurologische Erkrankungen und deren Auswirkungen auf das Radfahren sind noch nicht ausreichend erforscht. Hier müssen noch mehr Studien gemacht werden“, so der Sportmediziner. Er ist sich aber sicher, dass Bewegung und insbesondere Radfahren gut sind, um die allgemeine Ermüdung, das sogenannte Fatigue-Syndrom, das bei oder in Folge von chronischen Erkrankungen einsetzen kann, zu minimieren.
Mehr Öffentlichkeit für Thema gefordert
Das sieht auch Alexander Kraft, Pressesprecher von HP Velotechnik, so. Die Fahrradmanufaktur aus dem hessischen Kriftel ist auf Liegeräder spezialisiert. In den letzten Jahren ist die Nachfrage nach dreirädrigen Modellen stark gestiegen. Immer mehr Menschen mit neurologischen Erkrankungen erkennen die Mobilitätsmöglichkeiten. „Mobilität für Menschen mit Krankheiten wie MS, Schlaganfall, Schwindel oder muskuläre Erkrankungen ist ein wachsendes und wichtiges Thema. Wir bieten mittlerweile eine Vielzahl an Modellen an, die für Menschen mit diesen und auch anderen Krankheiten geeignet sind. Das Thema muss stärker in die Öffentlichkeit, damit wir mehr Menschen die Chancen aufzeigen und auch die Infrastruktur an die Bedürfnisse angepasst wird“, erklärt Kraft. Zwei Modelle von HP Velotechnik sowie diverses Zubehör sind Medizinprodukt und ein Rad hat sogar eine Hilfsmittelnummer. Das bringt insbesondere bei der Beantragung von Kostenübernahmen bei den Krankenkassen Vorteile. „Krankenkassen lehnen die Kostenübernahme oder Zuschüsse selbst für Spezialfahrräder sehr oft ab. Wer Einspruch einlegt, braucht sehr viel Zeit, Geduld starke Nerven und Glück – eine zusätzliche Tortur, die es nicht braucht und schnellstmöglich geändert werden muss“, sagt Kraft.
Sichtbarkeit
Nicht nur für Betroffene, auch für die Öffentlichkeit braucht das Thema Fahrradmobilität für Menschen mit Behinderung mehr Sichtbarkeit. Auf der Fachmesse Rehacare in Düsseldorf (25.–28. September 2024) stellen einige Unternehmen aus der Fahrradbranche (u . a. Bernds, HP Velotechnik, Schwalbe) ihre Mobilitätslösungen vor. Außerdem wird Kristina Vogel vor Ort sein und Einblicke in ihren Alltag geben. Die erfolgreiche Bahnrad-Sprinterin und TV-Expertin ist seit einem schweren Trainingsunfall 2018 querschnittsgelähmt. Seit letztem Jahr ist sie mit einem Handbike von HP Velotechnik im Alltag unterwegs.
Individuelle Anforderungen an Räder
Es ist für Betroffene meist schon schwierig, einen passenden Fachhändler zu finden, der sich mit der Thematik auskennt. Laut Michaela Buchholz wissen viele Händler noch gar nicht, was bei der Radwahl gefordert wird, weil man es nicht nachvollziehen kann: „Den Menschen geht es nicht um den größten Akku, den schnellsten Motor oder den leichtesten Rahmen. Für sie geht es um die tagtägliche Mobilität und praktische Lösungen, z. B. darum, einen Sack Kartoffeln zu transportieren.“ Hinzu kommen Herausforderungen bei der richtigen ergonomischen Einstellung: „Oftmals haben gerade Menschen mit Erkrankungen viel höhere Anforderungen als Hochleistungssportler:innen“, weiß Tofaute. Der Vorteil: Immer mehr Fachhändler werden von den entsprechenden Herstellern geschult, damit sie funktionierende Lösungen anbieten können. „Die Räder müssen so eingestellt sein, dass jeder Mensch seine Kraft ordentlich einsetzen kann und dass er schmerzfrei mit Freude Rad fahren kann“, erklärt Thomas Bernds. Das beginnt bereits bei kurzen Strecken, anfänglich nur ein paar Kilometer. Mit einer Sitzung ist das meist nicht getan. „Man muss viel ausprobieren, denn nicht jede Behinderung ist gleich“, weiß Christoph Buchholz aus eigener Erfahrung. Bei ihm braucht das rechte Bein eine zusätzliche Stabilisierung, was dazu führt, dass ein besonderes Pedal verbaut ist.
Räder brauchen modernes Design
Durch solche individuellen Lösungen darf das Rad allerdings nicht wie ein medizinisches Hilfsmittel aussehen, sondern es soll den Menschen Freude und Spaß vermitteln. Bernds, HP Velotechnik und andere Hersteller haben das erkannt und setzen deshalb auf moderne Rahmenformen. Wie wichtig das ist, bestätigt Dr. Tofaute: „Die Produkte sollen nicht stigmatisieren. Design und gute Optik sind genauso entscheidend wie praktische Lösungen.“ So sind faltbare Modelle von Bernds oder HP Velotechnik für Menschen mit Behinderung enorm wichtig. „Wer auf ein Spezialrad angewiesen ist, der kann sich im Urlaub oder auf Reisen nicht einfach ein Rad ausleihen, sondern muss es dorthin transportieren“, weiß Thomas Bernds. Und auch Kleinigkeiten in der Entwicklung können helfen, mehr Menschen wieder aufs Rad zu bekommen. So ist beispielsweise das neue Ventil „Clik Valve“ von Schwalbe für Menschen mit Behinderung einfacher zu bedienen. „Das Ventil stellt eine deutliche Erleichterung im Alltag beim Thema Luftpumpen dar“, sagt Manuela Zahn-Simons aus der Rollstuhlreifenabteilung von Schwalbe.