Typenkunde Rennrad
Rennräder: Schnell auf (fast) jeder Strecke
Nur vier von hundert in Deutschland verkauften Rädern haben einen Rennlenker. Das klingt bescheiden, doch der Umsatzanteil der leichten Flitzer liegt bei immerhin zehn Prozent – Rennräder sind eben deutlich teurer als andere Fahrradtypen. Außerdem liegt ihr Marktanteil somit mehr als doppelt so hoch wie vor der Pandemie – für den enormen Zugewinn zeichnet das Gravelbike verantwortlich, das mehr und mehr auch in die Domäne des Trekkingrads rollt.
Die Eckdaten des Segments Rennrad waren lange sehr klar umrissen: schmale Reifen auf 28-Zoll-Felgen, der charakteristisch geschwungene Lenker und kein Zubehör, das nicht der reinen Fortbewegung dient. Mittlerweile werden die Reifen breiter und es finden sich Scheibenbremsen sowie teils auch kleinere Laufräder. Die Übergänge zu Crosser, Reiserad und MTB verwaschen zusehens. Außerdem hält auch der E‑Motor Einzug.
Bleibt der Rennlenker als Hauptmerkmal, wobei auch hier die Vielfalt wächst. Zudem ist geringes Gewicht beim Rennrad ein Muss; aktuelle Rahmen bestehen aus dünnwandigen Alu-Rohren oder aus bedarfsgerecht dimensioniertem Carbon. Titan- und Stahlrahmen werden vorzugsweise von Kleinserien- und Maßrahmen-Herstellern angeboten.
Neben dem klassischen Rennrad gibt es zahlreiche Unterformen, die sich analog zu den verschiedenen sportlichen Disziplinen entwickelt haben.
1. Straßenrennrad
Der Urtyp, in zahllosen Varianten auf dem Markt und seit Jahrzehnten nur in feinsten Details verändert. Der Rahmen mit der klassischen Diamantform wird immer seltener mit waagerechtem Oberrohr gefertigt; sogenannte Sloping-Geometrien (mit nach hinten abfallendem Oberrohr) haben sich durchgesetzt – ursprünglich mit dem Ziel, den Rahmen steifer und leichter zu machen sowie zur Verringerung des nötigen Größenspektrums (nur vier Größen statt Ein-Zentimeter-Abstufung). Teils finden sich aerodynamische Elemente an Rahmen und Komponenten. Die Laufradgröße beträgt 28 Zoll; kleinere Laufräder finden sich bei Damen- und Jugendrennern. Reifenbreiten liegen nun bei 28, 30 oder 32 Millimetern. Üblich sind zwei Kettenblätter vorne sowie zehn bis zwölf eng abgestufte Ritzel am Hinterrad. Geschaltet wird vom Lenker aus mit kombinierten Bremsschalthebeln. Einfache Modelle mit Aluminiumrahmen wiegen neun Kilogramm; ein Oberklasse-Renner mit Carbonrahmen bringt auch mit Scheibenbremsen und Funkschaltung nur sieben Kilogramm auf die Waage. Zu den jüngeren Entwicklungen gehört eine Vollintegration aller Leitungen und Kabel in Lenker, Vorbau und Rahmen – was optische Vorteile und aerodynamische Nuancen bringt, aber Wartung und Teiletausch bei den Räder verkompliziert.
Ein Spezifikum des Rennrades ist eine über die riesige Preisspanne hinweg weitgehend identische Funktionalität – die Ausstattung ist gleich, für Vortrieb sorgen muss man sowieso selbst. Ein Unterschied zwischen einem Renner für tausend Euro und einer fünfzehnmal so teuren Profimaschine besteht in der Gewichtsdifferenz von bis zu fünf Kilogramm, was immense Einflüsse auf Handling und Fahrverhalten hat. Die hochwertigeren Komponenten teurer Rennräder sind darüber hinaus für eine deutlich höhere Kilometerleistung konzipiert.
2. Komfort-Rennrad
Dieser auch „Endurance-Rennrad“ genannte Vertreter ist ein Trend der jüngeren Jahre, der der wachsenden Beliebtheit des Rennradsports Rechnung trägt und diese weiter befeuert. Hauptmerkmal solcher Maschinen ist die etwas aufrechtere Sitzposition (kürzerer Rahmen, längeres Steuerrohr), individuell können auch die Sättel stärker gepolstert und das Lenkerband teilweise weicher ausgeführt sein. Komfort-Renner sind entweder mit Dreifachkurbeln (bessere Bergtauglichkeit) oder mit Zweifach-Kompakt-Kurbeln (größere Entfaltung) versehen. Auch die Reifen sind tendenziell etwas breiter ausgeführt als bei den Rennmaschinen. Carbon-Räder dieser Gattung werden aufgrund ihres Komforts selbst von Profis auf traditionell rumpligen Klassikerrennen eingesetzt.
3. Triathlonmaschine/Zeitfahrrad
Der Triathlonsport hat der Rennradtechnik starke Aerodynamik-Impulse gegeben. Weil das Windschattenfahren verboten ist, sind die Dreikämpfer ganz besonders auf schnelle, windschnittige Fahrräder angewiesen. Typisch für ein Rad, das im Triathlon oder bei Zeitfahrwettbewerben eingesetzt wird, ist vor allem die stark nach vorne verlagerte, flache Sitzposition: Der Sattel sitzt weiter vorn, seine Spitze liegt über dem Tretlager (steilerer Sitzwinkel). Den tiefen Zeitfahrlenker ziert ein Tria-Aufsatz, auf dem die Unterarme eng und parallel auf gepolsterten Schalen ruhen. Rahmen und Laufräder sind auf Luftwiderstand optimiert (flache Rohre, Tropfenform, hohe Felgen mit reduzierter Speichenzahl). Zwar kommt es beim Triathlonrad nur sekundär aufs Gewicht an, trotzdem ist Carbon das hier vorherrschende Rahmenmaterial – wegen seiner umfangreichen aerodynamischen Gestaltungsmöglichkeiten. Vertreter dieser Art können oft individuell konfiguriert werden und verfügen ebenfalls meist über Scheibenbremsen.
4. Cyclocross-/Querfeldeinrad
Einst Wintersport für Radrennfahrer:innen, später eigenständige Disziplin für ausgewiesene Spezialist:innen, blühten die knallharten Wettkämpfe mit geländegängigen Rennrädern größtenteils im Verborgenen – und erleben seit kurzem einen Hype in der jungen Radsportkultur. Das Cyclocross-Rad wird von Sportler:innen gerne als Alternative zum winterlichen Mountainbiken entdeckt – die Nutzungsüberschneidung mit dem Gravelbike sorgt zudem für Bekanntheit und sportliche Grassroots-Formate. Interessant ist der Geländerenner auch für Einsteiger:innen, ist doch der Cyclocrosser quasi ein praktischeres Rennrad: Er ist robust und mit seinen breiteren Reifen gut ausgerüstet für Feldwege, dabei leicht und wendig. Die gestiegene Nachfrage führt zu technischen Veränderungen, so ist heute die Scheibenbremse am „Crosser“ gesetzt, auch an Einstiegsmodellen. Die Montage von minimal profilierten Rennreifen verwandelt das Cyclocross-Rad in einen straßentauglichen Flitzer, einige Modelle lassen sich leicht mit Schutzblechen und Gepäckträger versehen und so zum Randonneur verwandeln (siehe Punkt 7).
5. Bahnrad
Bahnräder werden ausschließlich bei Wettkämpfen auf der Radrennbahn (auch Velodrom genannt) gefahren. Sie haben weder Bremsen noch Schaltung, nicht einmal einen Freilauf, sondern stattdessen eine starre Nabe – dauerndes Mittreten ist angesagt. Kette und Kettenblätter sind darum auch deutlich stabiler ausgeführt als an normalen Rädern. Sie entsprechen so nicht der StVO und dürfen nicht auf die Straße. Wichtig ist hier immense Rahmenstabilität wegen der kräftigen Antritte und der extrem hohen Trittfrequenzen. Bahnräder stellen die Urform der Singlespeed-Renner und Kurierräder dar (siehe Punkt 6).
6. Singlespeed/Kurier-Rad/Fixie
Fahrradkuriere in den US-Großstädten schufen einst diese Radgattung. Sie benötigten schnelle, stabile Fahrräder, an denen wenig kaputtgehen konnte und die nicht so stark vom (Teile-)Diebstahl betroffen waren – dabei stießen sie auf die technisch sehr reduzierten Bahnräder. Mittlerweile haben Singlespeeder sich im Stadtbild etabliert. Das Rad ist natürlich mit zwei Bremsen ausgestattet – und mit einer sogenannten Flipflop-Nabe: Durch Umdrehen des Hinterrads wird der Singlespeeder zum „Fixie“ mit einem starren Ritzel wie ein Bahnrad.
7. Randonneur/Reiserennrad/Audax
Mit dem Siegeszug des Trekkingbikes hatten reisetaugliche Rennräder an Boden verloren, doch neuerdings holen sie wieder auf. Dem Reiserennrad verdankt die Fahrradwelt Entwicklungen wie die Dreifachkurbel, doch das ist heute weitgehend vergessen. Reiserennräder („Randonneur“, Wanderer, ist der aus dem Französischen entliehene Begriff dafür) sind für größere Laufruhe mit etwas längerem Radstand als Rennräder gebaut; die Sitzposition ist manchmal etwas aufrechter. Der Haltbarkeit wegen werden die Rahmen häufig aus Stahl gefertigt. „Audax“ übrigens ist Latein und bedeutet „frech, kühn, verwegen“. In unserem Zusammenhang ist Audax der Oberbegriff für Nonstop-Langstreckenradfahrten auf Distanzen von 200 bis über 1.200 Kilometer (z. B. Paris–Brest–Paris), bei denen die Randonneur:innen ohne fremde Hilfe unterwegs sind und mittels Stempelkarten das Absolvieren der vollen Strecken nachweisen. Das Ziel von Audax-Veranstaltungen ist weniger die schnellste Zeit, sondern vielmehr das individuelle Durchhalten. Audax-Räder sind höchst individuell, als Basis dient meist ein Rennrad, das im Laufe unzähliger Kilometer perfekt an die Bedürfnisse der Benutzer:innen angepasst wurde.
8. Gravelbike/Vielzweck-Rennrad/Road Plus
Die jüngste Type des Rennlenkerfahrrads hört auf den Namen „Gravelbike“, vom englischen Wort für Schotter. Was auch des Pudels Kern ist: Diese Räder sind Rennräder, die auf der Straße schnellen Spaß bereiten – aber eben auch abseits des Asphalts. Erreicht wird das durch breitere Reifen, die nicht selten ohne Schlauch, also „tubeless“, montiert werden. Die größere Reifenbreite wird durch die Scheibenbremse möglich, die auch witterungsunabhängig viel kräftiger und besser dosierbar ist. Gravelbikes finden sich mit dem herkömmlichen 28-Zoll-Radmaß und Reifenbreiten von 35 bis 50 Millimeter, aber auch mit der Laufradgröße 27,5 Zoll (650B) und leichterer Mountainbike-Bereifung, die in extremeren Fällen die Breite von 60 Millimeter erreicht. Nicht selten eignen sich die Rahmen für die Verwendung beider Laufradgrößen. Ihren Vorteil spielen die Reifen nicht nur in der Pannensicherheit aus, sondern auch in der höheren Traktion und dem tatsächlich leichteren Lauf. Nun ist auch das alles freilich schon da gewesen: Nicht die Scheibenbremsen, wohl aber die Reifendimensionen der Gravelbikes erinnern stark an „handelsübliche“ Rennräder der 1940er- bis 60er-Jahre. Gravelbike können verschiedentlich auch andere vom MTB kommende Komponenten aufweisen, etwa Federgabeln, höhenverstellbare Sattelstützen und Einfach-Antriebe mit großen Ritzelkassetten. Vor allem aber versinnbildlicht die neue alte Gattung eine überfällige technische Öffnung des Themas Rennrad: Nie waren die Vielfalt der verfügbaren Komponenten und die Möglichkeiten der Anpassung an persönliche Vorlieben (bzw. des Erkennens derselben) größer als heute.